„Wissenschaft braucht Haltung“
Prof. Marco Rieckmann über politischen Druck auf Forschung und Lehre
Inhalt
Inhalt
16. Oktober 2025
Die Arbeit von Forschenden ist immer internationaler geworden, wissenschaftliche Projekte verbinden oft Hochschulen verschiedener Länder miteinander. Gleichzeitig wächst an vielen Orten der Druck auf die eigene Forschung, wie auch auf ausländische Studierende oder Kooperationsprojekte.
Prof. Dr. Marco Rieckmann ist Professor für Hochschuldidaktik an der Universität Vechta und beschäftigt sich u.a. mit Globalem Lernen. Im persönlichen Gespräch sieht er den wachsenden Populismus auch in Deutschland als Gefahr für die Wissenschaft. Selbst darüber offen zu sprechen, sei schon ein Risiko.
Herr Rieckmann, seit 1992 will die UNESCO eine Internationalisierung der Wissenschaft voranbringen und hat dazu ein weltweites Netzwerk aus Hochschulen aufgebaut. An diesen gibt es spezielle UNESCO-Lehrstühle – und Sie haben einen solchen an der irländischen Universität von Limerick gemeinsam mit einer Kollegin angetreten. Wie erleben Sie die Internationalisierung durch dieses Programm?
Ich erlebe sie als etwas sehr Wertvolles – nicht nur im Sinne internationaler Netzwerke, sondern auch im Sinne eines gemeinsamen Verantwortungsgefühls. Der UNESCO Chair, den ich gemeinsam mit meiner Kollegin Ann MacPhail an der University of Limerick leite, beschäftigt sich mit der Frage, wie man nachhaltige Entwicklung stärker in die Sportpädagogik und den Sportunterricht bringen kann. Das Thema ist international hochrelevant, sieht in der Realität vor Ort aber ganz unterschiedlich aus – und genau darin liegt die Chance: voneinander zu lernen.
Wir organisieren gemeinsam Vorträge, arbeiten an Publikationen und entwickeln internationale Perspektiven auf Forschung und Lehre. Im Mai war ich für zwei Tage an der University of Limerick, habe an einem Workshop teilgenommen, Studierende getroffen und mich mit Kolleg*innen über neue Kooperationsformate ausgetauscht. Für mich ist das keine abstrakte Internationalisierung, sondern sehr konkret, lebendig und zukunftsgerichtet.
Die internationale Arbeit ist für Forschende heute sicher zur Normalität geworden. Gleichzeitig ist das Zusammenwachsen über Ländergrenzen hinweg bisher kein gradliniger Prozess – wenn man allein die enormen Veränderungen durch die Corona-Pandemie betrachtet. Welche Trends in der Internationalisierung haben Sie selbst in den letzten Jahren erlebt?
Vor der Pandemie war sie vor allem geprägt von Mobilität: Konferenzen, Forschungsaufenthalte, Gastlehraufträge. Ich war fast jeden Monat im Ausland, mehrmals pro Jahr auch auf anderen Kontinenten unterwegs. Corona hat das radikal verändert. Erst kam der komplette Stillstand, dann eine regelrechte Explosion digitaler Formate. Und ich muss sagen, die Digitalisierung hat neue Türen geöffnet. Gerade auch für Kolleg*innen, die sonst nicht so leicht an internationalen Austauschprogrammen teilnehmen könnten.
Heute bin ich nur noch dann im Ausland, wenn es wirklich wichtig ist. Internationale Projekttreffen finden online statt, und Vorträge auf internationalen Tagungen halte ich inzwischen überwiegend digital.
Gleichzeitig ermöglicht diese neue digitale Normalität ganz neue Formen der Zusammenarbeit. Etwa in der Lehre: Ich kann jederzeit Kolleg*innen aus dem Ausland in meine Seminare zuschalten oder Studierende in internationale Formate einbinden. Seit Corona hat sich ein Hybrid-Modell etabliert: digital dort, wo es sinnvoll ist, aber mit dem Wunsch nach echter Begegnung, wo sie wirklich zählt.
Wenn extremistische oder autoritäre Kräfte Einfluss gewinnen, dann schrumpft der Raum für freie, kritische Forschung.
Prof. Dr. Marco Rieckmann, Universität Vechta
Mittlerweile haben wir auch gegenläufige Trends, an denen politische Kräfte beteiligt sind. Zum einen etwa gekappte wissenschaftliche Verbindungen zwischen russischen und westlichen Forschenden als indirekte Folge aus dem Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Aber auch als direktes politisches Mittel, etwa durch die Trump-Regierung in den USA. Hier werden wissenschaftliche Einrichtungen und Forschende im eigenen Land sowie Studierende aus dem Ausland unter Druck gesetzt, offenbar um gegen andersartige Meinungen vorzugehen.
Die Columbia University in New York hat sich beispielsweise entschieden, eine geforderte Strafzahlung von 200 Millionen Dollar an die Regierung zu zahlen, um nicht von staatlichen Forschungsgeldern ausgeschlossen zu werden. Bekommen Sie selbst etwas davon mit, was solch ein Druck bewirkt?
Ja, leider. Auch wenn wir in Deutschland nach wie vor vergleichsweise frei arbeiten können, ist der Druck spürbar – besonders für Kolleg*innen in den USA, aber auch in Ländern wie Ungarn oder Argentinien. An der Universität Vechta herrscht zum Glück noch ein Klima, in dem wir offen diskutieren können und sich auch die Studierenden frei äußern.
Mir fällt hier das Beispiel einer Bekannten ein, die ihr Abitur in Deutschland gemacht hat und heute mit einem Stipendium an der Harvard University studiert. Wir stehen gelegentlich in Kontakt und sie erzählt mir, dass sie sich dort nicht mehr frei äußern kann.
Selbst in Chatnachrichten oder auf Social Media sei sie extrem vorsichtig, sich offen zu äußern, weil sie Angst hat, ihr Visum zu verlieren oder nach einem Heimatbesuch nicht wieder in die USA einreisen zu dürfen. Das zeigt sehr konkret, wie politischer Druck persönliche und akademische Freiheiten einschränken kann. Diese Form von Selbstzensur macht mir Sorgen. Wissenschaft lebt von Offenheit, Vielfalt und der Möglichkeit, unbequeme Fragen zu stellen.
Was die Trump-Regierung in den USA in den letzten Jahren betrieben hat, war eine gezielte Delegitimierung der Wissenschaft – ich würde sogar sagen: ein Frontalangriff auf die Hochschulen. Besonders in sensiblen Bereichen wie Nachhaltigkeit, Diversität oder Geschlechterforschung wurde massiv Druck aufgebaut. Diese Wissenschaftsfeindlichkeit erschwert auch die internationale Zusammenarbeit. Mit manchen US-amerikanischen Partnerinstitutionen ist die Kooperation deutlich schwieriger geworden. Nicht, weil der Wille fehlt, sondern weil das politische Klima sich so verschärft hat.
Lange Zeit hat man Trumps Vorgehen als außergewöhnlich empfunden, mittlerweile hat aber auch in Deutschland der Populismus eine neue Stärke erreicht und wird von großen Teilen der Gesellschaft unterstützt. Mit welchen Gefühlen blicken Sie in die Zukunft, wenn es um Internationalisierung und freie Entfaltung der Wissenschaft bei uns geht?
Mit gemischten Gefühlen. Einerseits sehe ich viele engagierte Menschen – gerade auch, aber nicht nur junge –, die international denken, solidarisch handeln und Wissenschaft als Teil einer globalen Verantwortung begreifen. Das macht mir Hoffnung.
Andererseits beobachte ich mit wachsender Sorge, wie populistische Bewegungen auch in Deutschland zunehmend versuchen, Wissenschaft zu diskreditieren. Wenn rechtspopulistische Kräfte gezielt Stimmung gegen Universitäten machen, weil dort „zu viel Vielfalt“ oder „zu viel Klimawandel“ thematisiert wird, dann ist das nicht nur eine Polemik gegen bestimmte Inhalte, sondern ein Angriff auf die demokratische Kultur insgesamt.
Ich bin überzeugt: Wissenschaft braucht Haltung. Wenn die Grundlagen freier Forschung – Offenheit, Pluralität, kritisches Denken – infrage gestellt werden, dann dürfen wir nicht neutral bleiben. Deshalb engagiere ich mich auch selbst politisch, als Mitglied einer etablierten Partei.
Ich finde es eine Zumutung, wenn Politiker*innen versuchen, Hochschulen sprachlich oder in anderer Weise zu bevormunden, etwa durch Forderungen nach einem Gender-Verbot. Wer so etwas fordert, zeigt ein tiefes Misstrauen gegenüber der Autonomie von Wissenschaft und Lehre. Das hat mit freiheitlicher Wissenschaft nichts mehr zu tun.
Politischer Extremismus schadet tendenziell der Wissenschaft

Eine Studie der London School of Economics and Political Science ergibt, dass ein Erstarken extremer Parteien für eine Schwächung von Wissenschaft und technologischen Innovationen sorgt. In Regionen mit starker Unterstützung extremer Parteien nehmen demnach wissenschaftliche Publikationen, Patente und Fördermittel deutlich ab.
Die Freiheit der Wissenschaft gilt bei uns als bürgerliches Grundrecht, empfinden Sie selbst aber, dass sich die Abhängigkeit der Wissenschaft vom Geschehen in der Politik insgesamt verändert hat?
Ja, das denke ich schon. Wir sind heute stärker als früher mit politischen Dynamiken verknüpft, ob wir wollen oder nicht. Das ist nicht per se schlecht, denn Wissenschaft hat eine gesellschaftliche Verantwortung. Forschung sollte heute nicht im Elfenbeinturm stattfinden. Sie muss einen Beitrag leisten, um Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit zu finden – ob es um die Klimakrise, soziale Ungleichheit oder technologische Transformation geht.
Problematisch wird es dann, wenn politische Entscheidungen gezielt die Bedingungen für Forschung verschlechtern oder nur bestimmte Themen gefördert werden, weil sie gerade besser in eine politische Agenda passen. Es darf nicht sein, dass sich Bundesförderprogramme plötzlich von Nachhaltigkeit, Diversität oder globaler Gerechtigkeit abwenden, nur weil sie einer Ministerin oder einem Minister nicht genehm sind.
Wenn extremistische oder autoritäre Kräfte Einfluss gewinnen, dann schrumpft der Raum für freie, kritische Forschung. Und genau dieser Freiraum ist essenziell. Nicht nur für die Wissenschaft selbst, sondern auch für eine demokratische, lernfähige Gesellschaft.
Wenn Sie Wünsche äußern könnten, damit sich die Wissenschaft – auch im Punkt Internationalisierung – bestmöglich weiterentwickeln kann: Was braucht es aus Ihrer Sicht dafür und wer müsste dafür Verantwortung übernehmen?
Ich wünsche mir mehr Mut – auf allen Ebenen. Von der Politik wünsche ich mir, dass sie Wissenschaft nicht nur als Standortfaktor begreift, sondern als demokratisches Gut. Von der Wissenschaftsgemeinschaft erwarte ich mehr Solidarität, besonders mit Kolleg*innen in prekären oder autoritären Kontexten.
Und von der Gesellschaft wünsche ich mir ein wachsendes Verständnis dafür, wie wichtig eine unabhängige und zugleich verantwortungsvolle Wissenschaft für unsere gemeinsame Zukunft ist. Internationalisierung braucht Offenheit, Neugier, Sprachfähigkeit – und Ressourcen. Vor allem aber braucht es ein echtes Interesse am gemeinsamen Lernen und eine Haltung der Solidarität.
Gute internationale Zusammenarbeit ist kein Selbstläufer, sie muss aktiv gestaltet und gepflegt werden. Und dabei dürfen wir nicht nur in Richtung Globaler Norden blicken: Wenn wir über Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit sprechen, müssen Stimmen aus dem Globalen Süden gleichberechtigt gehört werden.