Wann Kinder lernen, andere zu verstehen
Umfassendste Studie bislang weist Entwicklung in der Grundschulzeit nach
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1. Juni 2022
Sie gehört zu den wichtigsten Fähigkeiten des Menschen: Die Fähigkeit, andere zu verstehen. Vielfach wird davon ausgegangen, dass Kinder diese vor allem im Vorschulalter entwickeln. Jetzt ist die bisher umfassendste Studie dazu erschienen, die erstmals in dieser Weise die Entwicklung während der Grundschulzeit erforscht hat.
Sie zeigt: Dort setzt sich die Entwicklung wesentlich fort. Daraus ergeben sich besondere Anforderungen an die Bildung in Schulen sowie die Erziehung durch Eltern – denn bestimmte Bausteine dieser Fähigkeit sollten besonders gefördert werden.
„Gerade bei Konflikten ist es wichtig, dass Kinder über Tools verfügen, um sich in andere hineinzuversetzen. Es gibt gute Trainingsprogramme, die man leicht in der Grundschule implementieren könnte.“
Junior-Prof. Christopher Osterhaus, Universität Vechta
Kinder sind intuitive Psychologinnen und Psychologen. Sie entwickeln früh ein grundlegendes Verständnis davon, wie Menschen denken, fühlen oder handeln. Vielfach wird davon ausgegangen, dass diese Entwicklung sich vor allem im Vorschulalter vollzieht.
Komplexere Fähigkeiten im Verständnis anderer entwickeln sich jedoch erst im Laufe der Grundschulzeit, wie eine Studie von Christopher Osterhaus, Juniorprofessor für Entwicklungspsychologie im Handlungsfeld Schule in Vechta und Susanne Koerber, Professorin für Frühe Bildung der Pädagogischen Hochschule Freiburg zeigt. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse bereits in der renmmierten Forschungszeitschrift „Child Development“.
Gefühle an den Augen ablesen
Die beiden Wissenschaftler*innen konnten nachweisen, dass Kinder rund um das erste Schuljahr verstehen, dass es zwischen Menschen zu Missverständnissen kommen kann. Darüber hinaus zeigen sie mit der Studie, dass diese Einsicht eine wesentliche Grundlage ist für viele weitere Entwicklungen in der Fähigkeit, andere zu verstehen.
Zu den komplexen Fähigkeiten, die sich im Verlauf der Grundschule entwickeln, gehört Sarkasmus zu erkennen, die Gefühle anderer an den Augen abzulesen, sich in die Gedankenwelt eines anderen zu versetzen und einen Fauxpas auszumachen. All dies sind wichtige sozial-kognitive Fähigkeiten, die als „intuitive Psychologie“ beschrieben werden.
Besonders intensiver Studien-Aufbau
Die beiden Wissenschaftler*innen der Universität Vechta und der Pädagogischen Hochschule Freiburg sind die ersten, die die sozial-kognitiven Fähigkeiten in dieser Kombination aus besonders langem Zeitraum mit besonders kurz aufeinander folgenden Test-Intervallen und einer besonders hohen Anzahl an Test-Aufgaben erfasst haben. Junior-Prof. Christopher Osterhaus hat gemeinsam mit Prof.in Dr.in Susanne Koerber eine fünfjährige Längsschnittuntersuchung mit insgesamt 161 Kindergarten- und Grundschulkindern durchgeführt.
„Wir haben die Kinder zum ersten Mal im Kindergarten interviewt und haben sie dann bis ans Ende der Grundschulzeit begleitet“, erläutert Osterhaus. „Dabei haben wir jährlich ihre Kompetenzentwicklung gemessen. Auf diese Weise lässt sich sehr genau verfolgen, wann Entwicklungsschritte auftreten und wovon diese abhängen.“
Die Schüler*innen bekamen von den Wissenschaftler*innen dabei Test-Aufgaben. Darunter die Geschichte über ein Mädchen, dass eine Überraschungsparty versehentlich ausplaudert. „Knapp 90 Prozent der Neunjährigen erkennen, dass solche Situationen nicht auf Absicht beruhen. Diese Fähigkeit scheint auf einen relativ simplen Prozess zurückzugehen, bei dem Kinder das, was in ihrem sozialen Umfeld passiert, mehr oder minder automatisch wahrnehmen und bewerten. Und je mehr Erfahrung sie hierin haben, desto besser scheint diese Bewertung zu funktionieren.“
Christopher Osterhaus ist Junior-Professor für Entwicklungspsychologie im Handlungsfeld Schule
In seiner Forschung beschäftigt er sich besonders mit der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens – vom Kindergarten bis in die Sekundarstufe – sowie auf die sozialkognitive Entwicklung.
Wann lernen Kinder also ihre eigenen Hypothesen zu testen und Experimente aufzustellen? Wann lernen sie komplexe Gedanken und Gefühle zu verstehen?